Titel
Der Fall Charlottenburg. Soziale Stiftungen im städtischen Kontext (1800-1950)


Autor(en)
Ludwig, Andreas
Reihe
Städteforschung A 66
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
415 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Roth, Frankfurt am Main

Seit den 1990er-Jahren ist das Stiftungsthema en vogue und erfreut sich in einer ganzen Reihe von größeren und kleineren Forschungsprojekten einer nicht geringen Aufmerksamkeit, die sich mittlerweile auch in einer beachtlichen Reihe von Publikationen niedergeschlagen hat. 1 Lange Zeit gehörten Stiftungen zu den eher selten Gegenständen historischer Betrachtung, reproduzierten sie sich im Selbstlauf aus den wenigen älteren Handbuchartikeln und wenigen Beiträgen, die im Rahmen der Diskussion um die Soziale Frage entstanden waren. Für die Suchenden und am Thema Interessierten erschöpfte sich der Zugang auf die Übersichten von Hans Liermanns Handbuch des Stiftungsrechts aus dem Jahre 1963 oder Theo Schillers politikwissenschaftlich angelegte Untersuchung der historischen Entwicklung des Stiftungswesens. 2

Von diesen Zeiten sind wir mittlerweile weit entfernt. Trotz der Fortschritte liegt jedoch kein Grund vor, sich mit den Erfolgen zu begnügen. Es mangelt noch an Vielem. Zum Beispiel fehlt ein überzeugender Grundlagentext, der der ganzen Forschungsrichtung Ziel und Struktur verleihen würde, wie dies etwa Nipperdeys Aufsatz über den Verein in der bürgerlichen Gesellschaft vermocht hatte. 3 Die Stiftungsforschung ist doch noch sehr vereinzelt und beschäftigt sich mit zahlreichen, sicher wertvollen, aber nicht in einem großen Zusammenhang eingebundenen Einzelproblemen. Die einen untersuchen das Verhältnis von Mäzenatentum und Kunst, andere die Wohlfahrtseinrichtungen der Juden in den europäischen Zentren, dritte Armenstiftungen oder andere Themen über das Stiften. Übergreifenden Arbeiten auf kommunaler Ebene kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Für einen begrenzten Raum kann hier – bei entsprechender Auswahl der Stadt – der Zusammenhang der verschiedenen Teilaspekte herausgearbeitet werden.

Das ist bei Charlottenburg, dem sich die vorliegende Arbeit widmet, leider nur bedingt der Fall. Die Studie entstand aus einem von Wolfgang Hofmann an der Technischen Universität Berlin geleiteten Forschungsprojekt, das neben anderen Themen die Stadt als Dienstleistungszentrum im Blick hatte. In diesem Kontext wählte Andreas Ludwig mit Bedacht das System der Stiftungen in der Stadt Charlottenburg, die bis 1920 eine selbständige Kommune in der Nachbarschaft von Berlin bildete. Die Stadt verfügt über umfangreiche Quellenbestände zu den Stiftungen und außerdem lassen sich hier die Stiftungsaktivitäten gut in die moderne Stadtgeschichte einbinden. Insbesondere interessierte ihn die Geschichte des Bürgertums und seiner, wie er schreibt, "gesellschaftlichen Wirkungsweisen". Seiner Ansicht nach wurden Stiftungen in einer Phase der durchgreifenden Modernisierung besonders wichtig, da sie bedeutend zur Linderung der sozialen Not beitrugen, bevor entsprechende kommunale Einrichtungen Platz greifen konnten. Immerhin entstanden in Charlottenburg zwischen 1797 und 1920 113 Stiftungen und sie wurden fast ausnahmslos zu sozialen Zwecken gegründet. Das allerdings unterscheidet Charlottenburg sehr vom Stiftungswesen in Großstädten wie Hamburg, Köln oder Frankfurt am Main, und lässt es in Bezug auf die Bandbreite der üblichen Stiftungsstruktur einer größeren Stadt als defizitär erscheinen.

Die Konzentration auf das Soziale legt es nahe, Charlottenburgs Stiftungen, wie es Ludwig vorschlägt, vor allem unter dem Aspekt der Industrialisierung zu betrachten. Und so beginnt die Studie mit einer Skizze der historischen Entwicklung der Stadt im 19. Jahrhundert. Dazu gehört der Wandel Charlottenburgs von der Residenzstadt zu einer multifunktionalen Großstadt, von denen wir einige Beispiele in der Berliner Agglomeration kennen. Die Transformation erfasste nicht nur sozialstrukturelle Prozesse, sondern wie üblich auch politisch-administrative Veränderungen und dazu gehörte wiederum die kommunale Selbstverwaltung, die "sich als ein Beziehungsgeflecht von sich herausbildender kommunaler Bürokratie" und "aufgrund des Wahlrechts bürgerlich dominierter Stadtverordnetenversammlung und ehrenamtlichen Elementen" entwickelte. Diese Mischlage wurde dann zunehmend von der "sich entwickelnden Leistungsverwaltung der Städte" abgelöst, die "immer weitere Gebiete der "Daseinsvorsorge" erfasste (S. 20).

Nach diesen Übersichten greift Ludwig die Stränge des Stiftungswesens wieder auf und rekonstruiert ihr System vor dem Hintergrund der verschiedenen Etappen des Ausbaus der kommunalen Daseinsfürsorge und den zahlreichen sozialen Vereinen als eine dritte Säule von Maßnahmen gegen die soziale Verelendung. Dabei unterscheidet er die Zeit vor 1850, von 1850 bis 1880, in der die private von der kommunale Fürsorge getrennt war, sodann die Zeit von 1880 bis 1920, in der sich mit der kommunalen sozialen Reform auch die Stiftungen und ihre Aufgaben veränderten, und schließlich eine dritte Periode von 1920 bis zur Gegenwart. Hier können Zweifel angebracht werden, ob sich diese lange Zeitspanne mit dem Begriffspaar Stiftungen zwischen "Rekonstruktion und Zerstörung" wirklich als eine einheitliche Periode fassen lässt. Eher bietet sich die Unterteilung in drei unterschiedliche Phasen an: die wirtschaftlich motivierten Probleme der Kapitalstiftungen in der Inflationszeit, das politische Zerstörungswerk des Nationalsozialismus und die Etablierung eines neuen Systems nach 1945. Für die Etappen bis 1920 jedoch bewährt sich die vorgenommene Einteilung und der Ertrag von Ludwigs Studie ist beachtlich.

Die Stiftungen stellten für ihn eine Form sozialen Handelns dar, historisch gewachsene Instrumentarien, die durch ihre fortdauernde Anwendung einen sozialen Raum konstituiert haben. Sie wirkten zugleich als distinktives Zeichen von Macht, Herrschaft und Einfluss und wurden von seiner Umgebung als Code verstanden. Ludwig bezieht sich also zur Interpretation der Charlottenburger Stiftungen stark auf Pierre Bourdieu und geht davon aus, dass "Stiftungen neben einer obligatorischen kommunalen Armenfürsorge ein wirksames und anerkanntes Instrumentarium sozialen Handelns" bildeten. Sie wirkten auf lokaler Ebene "als symbolisch aufgeladenes Subsystem bürgerlicher Vergesellschaftung" (S. 26). Was er damit meint, wird im Weiteren ausführlich geschildert.

Die Summe der Stiftungskapitalien neu gegründeter Stiftungen betrug am Beginn des 19. Jahrhunderts um die 20.000 Taler. Die Einzelstiftungen waren nicht besonders groß. Im Durchschnitt betrugen die Vermächtnisse zwischen 500 und 1000 Taler. Damit ließen sich keine großen Sprünge machen. Die Auswirkungen auf die Armut blieben gering. Die "privaten Beiträge bewirkten also nicht allein die Gründung wesentlicher Anstalten", aber sie trugen mit zu ihrer Versorgung bei (S. 104). Die bestanden in der Unterstützung des Kartoffelanbaus, Zuschüssen zum Heizmaterial und Krankenunterstützung. Als Gegenleistung sollte an den Stifter gedacht werden und nicht selten war die Verteilung der Leistung an den Todestag des Stifters gekoppelt. In den Jahrzehnten nach 1850 nahmen die Probleme im Zusammenhang mit dem beschleunigten Wachstum der Stadt zu und so gewannen auch die Armenstiftungen an Bedeutung. Immerhin akquirierten 26 Stiftungen nun ein Stiftungskapital von fast 80.000 Mark und drei Häuser. Wenn auch die finanzielle Ausstattung der einzelnen Stiftungen im Vergleich mit der Periode zuvor eher abnahm, so konnten sie sich nun als allgemeine Armenstiftungen dem Problem in seiner ganzen Bandbreite zuwenden.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte das Stiftungswesen dann seine Blütezeit. Sogar in der Zeit des Krieges stieg das Stiftungskapital aller Stiftungen Charlottenburgs von 6,65 auf 10,224 Millionen Mark an. Danach setzte abrupt der Verfall ein. Denn "durch die Geldentwertung [wurden] die Stiftungen völlig wirkungslos und stellten ihre Zahlungen 1922/23 ein" (S. 338). Das Stiftungsvermögen ging verloren und reduzierte sich de facto auf eine Rentenmark. Mit den späteren Aufwertungsverhandlungen konnte zwar einiges wieder wett gemacht werden. Der Untergang des kommunalen Stiftungswesens ließ sich jedoch nicht verhindern. Dem finanziellen Zusammenbruch folgte der organisatorische Kahlschlag. Die Stadtverwaltung begann noch in der Weimarer Republik mit der Zusammenlegung zahlreicher Stiftungen. Dieses Zerstörungswerk setzten die Nationalsozialisten mit ihren rassistischen Schwerpunktsetzungen fort, indem sie den jüdischen Stiftungen durch Besteuerung und später durch Auflösung ein Ende bereiteten und das restliche Stiftungswesen durch Zusammenlegung "vereinfachten". Dieses Vernichtungswerk wurde nach dem Krieg keineswegs zurückgenommen, sondern in seinen Ergebnissen bestätigt.

Wenn das Ende der Studie auch bedauerlicherweise etwas kursorisch ausfällt und der Leser nach all den Windungen und Wendungen der detailreichen Studie sehr stark eine Zusammenfassung und präzise Zuspitzung der Ergebnisse vermisst, hat Andreas Ludwig doch eine wichtige Arbeit zu einem zentralen Thema der historischen Stiftungsforschung vorgelegt.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Kocka, Jürgen; Frey, Manuel (Hrsg.), Bürgerkultur und
Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, Berlin 1998; Dorrmann, Michael, Eduard Arnhold
(1849-1925). Eine biographische Studie zu Unternehmer- und Mäzenatentum im
Deutschen Kaiserreich, Berlin 2002; Matthes, Olaf, James Simon. Mäzen im
Wilhelminischen Zeitalter, Berlin 2000; Hönicke, Günter, Jüdische Stiftungen
und Legate in Hamburg bis 1943, Hamburg 2001.
2 Liermann, Hans, Handbuch des Stiftungsrechts, 2 Bde., Tübingen 1963, und
Schiller, Theo, Stiftungen im gesellschaftlichen Prozeß. Ein
politikwissenschaftlicher Beitrag zu Recht, Soziologie und Sozialgeschichte
der Stiftungen in Deutschland, Baden-Baden 1969.
3 Nipperdey, Thomas, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten
18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Heimpel, Hermann (Hrsg.),
Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1972,
1-44.